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AktuellPressemeldungen

28.04.2020 – Öffentlicher Nahverkehr in Gera

Straßenbahn in Gera

28.04.2020

Öffentlicher Nahverkehr in Gera

Offener Brief an den Präsidenten des Thüringer Landesverwaltungsamtes

Straßenbahn in Gera

Sehr geehrter Herr Roßner,

am 23. April 2020, 11:27 Uhr haben Sie den Oberbürgermeister der Stadt Gera per E-Mail informiert, dass Hinweise von Stadtratsmitgliedern bei Ihnen eingegangen sind. Diese haben die geplante Sitzung des Geraer Stadtrates vom 23.04.2020 in der Angelegenheit der Ersatzbeschaffung von Straßenbahnen betroffen. Inhalt der Anfrage war die Wertung ihres letzten Schreibens in obiger Angelegenheit vom 09.04.2020.

Sie hätten ohne Geheimnisse preisgeben zu müssen, schreiben können, dass diese Anfrage über Herrn Schubert, Vorsitzender der Linksfraktion im Stadtrat erfolgt ist. Bei dem Telefonat an dem von Ihnen genannten 17.04.2020 zwischen 15.30 und 16.00 Uhr war ich anwesend. Um nicht wie jetzt, einseitig zu argumentieren hätte ich erwartet, dass Sie sich im Sinne demokratischen Handelns, zuerst ein objektives Bild zur Gesamtsituation verschaffen, bevor Sie mit Ihrem Schreiben direkt in die kommunale Selbstverwaltung der Stadt eingreifen. Stattdessen haben
Sie es seit dem 17.04.2020 unterlassen auch die Standpunkte der anderen Fraktionen des Stadtrates zu o.g. Sachverhalt in Ihre Entscheidungsfindung einzubeziehen. In diesem Fall hätten Sie sich Ihre Mail vom 23.04.2020 mit Sicherheit erspart.

Sie verweisen in Ihrem Schreiben auf Dokumente, die Sie zwischenzeitlich von Stadtratsmitgliedern erhalten haben. Dabei verweisen Sie insbesondere „auf ein Papier aus der GVB, in dem auf die signifikanten Preisunterschiede für einzelne Bahnen, in Abhängigkeit von der bestellten Stückzahl hingewiesen wird.“ Das ist nichts Ungewöhnliches. Was allerdings „signifikant“ ist lassen Sie ebenfalls
offen, genauso, welche weiteren Dokumente Sie erhalten haben.

Ich gehe davon aus, dass Sie die durch den GF der GVB mitgeteilten Preisunterschiede von 3,2 Mio. €/Bahn bei der Bestellung von 12 Bahnen zu 4 Mio. €/Bahn bei der Bestellung von 6 Bahnen meinen. Diese Preisunterschiede sind mehr als fraglich. Zudem konnte selbst Herr Schubert neben der 1 Mio. € „Einrichtungskosten“ (unabhängig ob 6 oder 12 Bahnen) für den Produktionstakt der Straßenbahnen für Gera, keine weiteren zusätzlichen Kosten benennen. D.h. pro Bahn ca. 83 T€ Einrichtungskosten bei 12 Bahnen und demzufolge bei nur 6 Bahnen das doppelte bei dem Grundpreis von 3,12 Mio. €/Bahn.

Wie Sie wissen, hat der Stadtrat am 19.12.2019 den Beschluss gefasst, von den 16,5 Mio. € Darlehn der Stadt Gera an den GVB ca. 6,5 Mio. € in Eigenkapital des GVB umzuwandeln und das mit einer Eigenkapitalverzinsung von 4 %. Beanstandet wurde dieser Beschluss nach meinem Kenntnisstand vom LVA bis heute (4 Monate später) nicht. Ihnen dürfte zwischenzeitlich auch bekannt sein, dass es ernste rechtliche Bedenken auch seitens der EU zu diesem Beschluss gibt. Ihre Auffassung zu diesem Sachverhalt in Ihrem Schreiben vom 23.04.2020 ist deshalb nicht nachzuvollziehen. Sie beanstanden also einerseits den Beschluss nicht und wollen andererseits die Eigenkapitalverzinsung von 4% auf den alten Stand von 0 bis 4% zurückführen.

In der Stadtratssitzung vom 19.12.2019 hat der GF der GVB festgestellt, dass die GVB die Finanzierung von Straßenbahnen nicht gewährleisten kann, wenn die Eigenkapitalverzinsung nicht auf 4% festgelegt wird. Folgen wir Ihren Vorschlag, die Eigenkapitalverzinsung auf den alten Wert von 0 bis 4% zurückzuführen, dann könnten keine Bahnen über den GVB beschafft werden. Das kann nicht Ihr Ansatz sein.

Im weiteren Verlauf Ihres Schreibens verweisen Sie auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Wirtschaftlichkeitsbetrachtung mit komplexer Variantenauswahl. Vom Beratungsunternehmen Rödl & Partner liegt Ihnen explizit ein Gutachten vom 06.04.2020 mit vier Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen vor. Ein Hinweis Ihrerseits zum Zeitpunkt der Vorlage des Gutachtens, dass diese Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen nicht ausreichen, wäre zu diesem Zeitpunkt
notwendig und hilfreich gewesen. Jetzt zu schreiben, dass keine Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen vorliegen ist nicht nur kontraproduktiv, sondern auch falsch. Ihr Hinweis diesbezüglich, dass ein getroffener Stadtratsbeschluss ohne Wirtschaftlichkeitsbetrachtung wohl zwingend zu beanstanden wäre, stimmt somit auch nicht.

Haben Sie den anzeigenden Stadtratsmitgliedern einmal die Frage gestellt, wie viele Angebote für Straßenbahnen beim GVB vorliegen? Wenn ja, dann hätten Ihre Ausführungen Sinn, dass bei „der Variantenabwägung sollen für die Entscheidung über die Wirtschaftlichkeit nicht nur monetäre Entscheidungskriterien in die Entscheidungsmatrix einfließen.“ Hier scheinen die Ihnen vorliegenden Unterlagen nicht vollständig und umfassend zu sein.

Bekannt ist Ihnen jedoch sicher, dass es zwischen der Stadt Gera und dem Landkreis Greiz einen gemeinsamen Nahverkehrsplan (NVP) gibt. Dieser wurde durch den Stadtrat im Jahr 2015 beschlossen und soll 2020 neu angepasst werden. Aus den darin fixierten Kennzahlen zur Anzahl der zu befördernder Personen, Taktfolgen etc. lässt sich die Anzahl die notwendigen Straßenbahnen ableiten. Für Gera sind dies nach NVP

  • 4 Bahnen auf Linie 1,
  • 1 Bahn auf der Linie 2 und
  • 10 Bahnen auf der Linie 3,
  • = 15 Bahnen
  • + 3 Bahnen als notwendige Reserve.
  • = 18 Bahnen gesamt

Da abweichend vom Stadtratsbeschluss zum NVP der GVB auf der Linie 3 bereits im 5 – Minuten-Takt und nicht wie festgelegt im 7,5 Minuten – Takt fährt, sind 15 Bahnen notwendig. Dies wurde durch uns als Stadträte im Interesse der Bürger bereits toleriert. Somit sind derzeit wie nachfolgend aufgeführt 20 Bahnen im Einsatz und vier Bahnen als Ersatz notwendig.

  • 4 Bahnen auf Linie 1,
  • 1 Bahn auf der Linie 2 und
  • 15 Bahnen auf der Linie 3,
  • = 20 Bahnen
  • + 4 Bahnen als notwendige Reserve.
  • = 24 Bahnen

Anmerkung: 5 der notwendigen 20 Bahnen sind pro Tag nur 5 Stunden im Einsatz. 19 Stunden stehen diese im Depot der GVB.

Derzeit haben wir in Gera 12 neue „alte Bahnen“ die zwischen 2006 bis 2008 angeschafft wurden. Dazu kommen 6 Bahnen die 1999, 2001 und 2003 auf Niederflurtechnik umgebaut wurden. Darüber hinaus haben wir noch 28 Tatra- Bahnen. Alles das können Sie auf der Internetseite der GVB nachlesen. Dazu auch der Hinweis: Abschreibungen von Schienenfahrzeugen (AFA) liegen bei 25
Jahren; die Nutzung von Bahnen in der Regel bei 35 Jahren.

Aus kaufmännischer Sicht sollen durch den Stadtrat 6 Bahnen bzw. 8 Bahnen zur Bestellung durch die GVB frei gegeben werden. Dies bedeutet im

  • 1. Fall (6 Bahnen) 12 plus 6 neue und 6 ältere Niederflurbahnen, also 24 Bahnen und
  • 2. Fall (8 Bahnen) 12 plus 8 neue Bahnen und 6 ältere Niederflurbahnen, also 26 Bahnen.

Über die Zahl der notwendigen Bahnen (20 Stück) siehe oben sind sich alle Stadtratsfraktionen einig gewesen. Der einzige Differenzstandpunkt war und ist die zusätzliche Ausgabe für Bahnen, die nicht wirtschaftlich eingesetzt werden können.
Den im Durchschnitt 34.000 Fahrgästen pro Tag die die schienengebundenen öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, können wir mit 20 Bahnen ein Angebot von ca. 80.000 Plätzen anbieten.

Was Sie in Bezug auf die Bestellung von Straßenbahnen mit dem Hinweis auf Covid-19 bezwecken erschließt sich mir nicht. Wollen Sie den Stadtrat von Gera auffordern, für Extremsituationen jetzt zusätzliche Bahnen zu bestellen, die 2022/2023 geliefert werden? Und das mit dem Wissen, dass die gesamte Wirtschaft ums Überleben kämpft? Sicher habe ich Sie da nur falsch verstanden.
Die Insolvenz der Stadtwerke 2014 durfte ich als Leiter eines Untersuchungsausschusses bewerten.

Das Gutachten liegt bei der Stadt vor. Sehen Sie es sich an, dann wissen Sie, wie gewissenhaft wir gerade die Ausgaben des GVB prüfen, damit nicht wieder eine solche Situation eintritt. Sie verweisen auf die Möglichkeit, den „Wagenpark“ durch die Stadt Gera zu erwerben als eine der Möglichkeiten der Ihnen vorliegenden Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen. Bei Kenntnis des Gutachtens von Rödl & Partner würden Sie erkennen, dass dann keine 50 % Fördermittel vom Fördermittelgeber fließen können. Das war der Grund, warum diese Variante für uns aus wirtschaftlicher Sicht ausgeschieden ist. Übrigens weiß das auch Herr Schubert. Die finanziellen Belastungen für die Stadt bzw. den GVB können Sie folgenden Tabelle entnehmen. Wir reden dabei nicht über Peanuts.

Tabelle zum öffentlichen Nahverkehr in Gera
Die Teilumwandlung des Darlehns und die Beschaffung der Bahnen durch den GVB ist nach wie vor die gängige Variante. Wie bereits angesprochen gibt es in den Ihnen vorliegenden Gutachten rechtliche Bedenken auch aus Sicht der Europäischen Kommission. Dies betrifft auch die sogenannte Endschaftsregelung (Ende der Vertragslaufzeit mit der GVB zum 30.09.2036).

Warum durch Sie die Sondersitzung am 23.04.2020 des Stadtrates von Gera abgesagt werden musste, kann ich nicht verstehen. Zumal mir seitens der bei Ihnen anzeigenden Stadträte bekannt ist, dass nach dem 30.04.2020 die Förderung von Straßenbahnen nicht mehr möglich ist. Unter Beachtung dieser Tatsache wird der Stadtrat von Gera erneut kurzfristig zusammenkommen müssen, was möglicherweise auf Mehrheitsverhältnisse Einfluss hat. Damit haben Sie sich wirtschaftlich unbegründet aktiv in die kommunale Selbstverwaltung eingemischt.

Sehr geehrter Herr Roßner,
zu sachlichen Erläuterungen stehe ich gerne zur Verfügung. Bewusst verweise ich an dieser Stelle darauf, dass ich 17 Jahre als GF eines kommunalen Unternehmens tätig war und sehr genau weiß was ich schreibe.

Ich gestatte mir, diese Mail zur Information auch dem Ministerpräsidenten des Landes Thüringen, den Fraktionsvorsitzenden des Landtages, dem OB der Stadt Gera sowie den Fraktionsvorsitzenden des Geraer Stadtrates zukommen zu lassen.

Mit freundlichen Grüßen
Dr.-Ing. Ulrich Porst
Fraktionsvorsitzender
Bürgerschaft Gera